Das Erste Medikament

Ich hatte mir also wenige Stunden zuvor die erste Dosis meiner Langzeit-Therapie gespritzt. Die Interferone hatten mit ihrer Arbeit begonnen, von der mir auch bisher keiner genau erklären kann, was genau sie im Körper bei MS bewirken, auβer dass es immunmodulierend wirken soll – was auch immer das heiβen mag. So langsam machen sich grippale Symptome breit, ich bekomme einen Brummschädel, bin kaputt und friere. Ich mache mir eine Wärmflasche und lege mich ins Bett. In den letzten Wochen hatte ich mit groβer innerlicher Hitze zu kämpfen. Habe bei kleinster Anstrengung viel geschwitzt und konnte mich alleine aufgrund der groβen Hitze schlecht konzentrieren. Nun friere ich und kann mich aufgrund der künstlich herbeigeführten grippalen Symptome kaum konzentrieren. In den nächsten drei Tagen brauche ich zehn Ibuprofen um die Nebenwirkungen wenigstens halbwegs abzumildern. Und das erwartet mich nun lebenslänglich alle zwei Wochen. Tolle Aussichten!

In all den Arztbriefen von der Klinik, der Ambulanz und der Radiologie steht nirgends die Diagnose “Multiple Sklerose”, sondern “chronisch entzündliche ZNS-Erkrankung”, “multiple Myelonläsionen” oder “Myelitis”. Ich frage mich langsam, ob eine falsche vorläufige Diagnose gestellt wurde und ich doch an etwas anderem leide. Vielleicht brauche ich andere Medikamente. Warum sagt mir niemand etwas Konkretes? Vielleicht sollte ich eine Zweitmeinung einholen!

Dies tue ich und besuche einen Arzt in einer anderen Stadt. Während des Gesprächs ist auch der Arzt der Meinung, dass ich an MS erkrankt wäre, doch in seinem Arztbrief lese ich später: “Angesichts fehlender zeitlicher Dissemination konnte die Diagnose einer schubförmigen MS noch nicht gestellt werden.” Immerhin scheinen sich die Ärzte irgendwie einig zu sein, dass ich MS habe, auch wenn sie es mir nicht schriftlich bescheinigen wollen. Auch 8 Jahre später wollte mein Allgemeinarzt eine Bestätigung von meinem Neurologen bezüglich der Diagnose MS haben, denn auch er konnte diese nicht aus den Arztbriefen entnehmen! Spoiler-Alarm: An dieser Stelle könnten Sie sich auf das Wort „schubförmig“ stürzen und womöglich einen progredienten (also stetigen) MS-Verlauf heraufbeschwören. Doch seit der Diagnose konnte ich keinen weiteren Schub verzeichnen. Und auch neuere MRT-Aufnahmen zeigen keine Verschlechterung, so dass man mir auch keinen progredienten Verlauf anrechnen kann.

Inzwischen bin ich wieder am Arbeiten. Als mein Chef mich nach dieser längeren und unfreiwilligen Pause wieder sieht, gehen wir in sein Büro und reden. Ich weiβ, dass ich ihm meine Diagnose nicht mitteilen muss. Tue es aber, denn ich arbeite gerne und erzähle ihm, wie es mir in den letzten Wochen ergangen ist. Ich kann Laufen und Stehen, aber es ist noch nicht sonderlich angenehm. Denn ich habe immer noch mit leichter, aber beständiger Taubheit in den Füssen zu kämpfen. Daher bevorzuge ich das Arbeiten im Sitzen und laufe auch absichtlich nicht sonderlich schnell durch die Gänge. Mir ist bewusst, dass ich mich durchaus länger hätte krankschreiben lassen können, aber das wollte ich partout nicht. Ich brauche nun hin und wieder Pausen, aber das ist ok – für mich und für meinen Chef. Denn ich will weiter forschen und meine Doktorarbeit weiterführen. Diese Pausen braucht es vor allem an den Tagen nach dem Spritzen der Interferone. Die Schmerzmittel helfen zwar etwas gegen die Nebenwirkungen, machen mich aber eben auch müde. Ich weiβ, dass ich ein paar Gänge zurück­schalten muss und mein Chef weiβ das auch. Den Stresspegel möglichst geringhalten. Und es klappt. Mit der Zeit funktioniert es mit der Belastbarkeit auch immer besser. Aber natürlich bin ich nun sensibilisiert und achte (auch später noch) darauf, dass Stress nicht zum Dauerstress ausartet. Das ist vermutlich etwas, das viele MS-Erkrankte bestätigen können: Man wird sensibilisiert gegenüber Stress und für die wichtigen Dinge im Leben!

Habe mich neuerdings für Feldenkrais angemeldet – einer Bewegungstherapie, bei der die Achtsam­keit auf den Bewegungsabläufen und damit letztendlich auch auf mir selbst liegt. Ich bin dort die Jüngste und erlerne nun wöchentlich neue Sichtweisen auf meinen Körper. Diese Therapie ist körperlich nicht anstrengend und eben auch gerade für Erkrankte während oder nach einem Schub gut durchführbar. Ich finde sie sehr empfehlenswert! Möchte aber auch darauf hinweisen, dass es durchaus auch andere Methoden gibt, mehr Bewusstsein, Achtsamkeit und Sensibilität zwischen Verstand und Körpergefühl herzustellen, wie zum Beispiel Yoga, Meditation, Qi Gong oder Tai Chi.

Habe auβerdem Akupunkturtermine vereinbart und lasse mich regelmäβig nadeln. Und obwohl mir die Nadelkissen meiner Schubsymptomatik nicht aus dem Kopf gehen wollen, tun mir diese Nadel­stiche gut!

Es geht also Stück für Stück besser, aber ich bin noch immer nicht auf dem Level von vor dem Schub angekommen. Da hilft nur weiteres Bewegungs-Training, Tag für Tag. Nach etwa 3 Monaten ist es soweit und ich fühle mich körperlich in etwa so, wie vor dem Schub. Ob dies der Fall wäre, wenn ich mich nicht regelmäβig bewegt hätte, kann ich nicht sagen. Aber ich denke schon, dass die Bewegung einen positiven Einfluss auf meinen Gesundheitszustand hatte.

Habe mir auβerdem ein Balance-Board gekauft sowie einen Hocker mit beweglicher Sitzfläche und trainiere damit regelmäβig ein bisschen. Ausserdem verwende ich immer wieder dehnbare Fitnessbänder.

Die Nebenwirkungen der Interferone haben sich nicht merklich gebessert. Ich brauche auch nach 3 Monaten weiterhin 10 Ibuprofen, um die Tage nach der Injektion halbwegs erträglich zu überstehen und frage mich, ab wann man als schmerzmittelabhängig gilt. Angeblich sollte man sich mit der Zeit an das MS-Medikament gewöhnen, sodass man weniger Schmerzmittel bräuchte. Dies konnte ich bei mir nun wirklich nicht bestätigen. Ich muss ohnehin regelmäβig zur ärztlichen Kontrolle, denn das Medikament kann (wie so viele MS-Medikamente) auch deutlich schlimmere Nebenwirkungen hervorrufen bzw. begünstigen, zum Beispiel die Progressive Multifokale Leukenzephalopathie. Es werden die Leberwerte regelmäβig geprüft, was sicherlich eine gute Sicherheitsmaβnahme darstellt, aber auch zeigt, dass die MS-Medikamente deutlich in den Stoffwechsel eingreifen. Ob dieser Eingriff mehr oder weniger von Erfolg gekrönt ist, bleibt zunächst offen, da der Benefit nicht in einer Besserung oder Heilung des Krankheitszustandes liegt!

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