Ich bespreche den Wechsel des MS-Medikaments gemeinsam mit meinem Neurologen, bekomme ein neues Rezept und bin gespannt, wie gut ich nun dieses Medikament vertragen werde. Das eigentlich alte, aber für mich neue MS-Medikament soll ich nun alle zwei Tage spritzen. Es ist Montagabend und ich setze mir kurz vor dem Schlafengehen die erste Spritze mit Glatirameracetat, um -wie üblich- einen Teil der Symptome zu verschlafen. Mir geht es ähnlich, wie bei dem ersten Medikament – ich brauche am nächsten Tag wieder Ibuprofen, aber keine so hohe Dosis wie bisher. Ich setzte mir auch am Mittwoch und am Freitag jeweils vor dem Schlafengehen eine Spritze.
Es ist nun Freitagabend, 23 Uhr und ich schlafe ein. Etwa zwei Stunden später wache ich auf, mir ist unglaublich schlecht, es dreht sich alles um mich herum, obwohl ich liege. Ich rufe nach meinen Eltern, die zwei Zimmer entfernt liegen. Mein Schädel brummt, ich habe Schweiβperlen auf der Stirn und friere ungemein unter der Bettdecke. Ich habe Schüttelfrost und kann nur schwer atmen. Meine Eltern helfen mir beim Aufstehen, ich übergebe mich. Sie stützen mich auf dem Weg zum Auto und fahren mit mir zur Notaufnahme ins nächstgelegene Krankenhaus. Es ist Sommer, eine Nacht von Freitag auf Samstag und das Klinikpersonal scheint wenig begeistert. Sie messen meinen Blutdruck, meine Körpertemperatur, hören mich ab und kommen zu dem Schluss, dass ich nicht zu simulieren scheine. Ich erfahre, dass mein Blutdruck bei 150 zu 60 liegt statt meiner üblichen 110 zu 80 und ich kann Ihnen sagen: Eine solche Disharmonie -auch wenn sie noch nicht lebensbedrohlich ist- fühlt sich echt nicht gut an. Da herrschte doch ein ziemliches Ungleichgewicht zwischen der Herzauswurfleistung und der Herzfüllphase. Ich habe tatsächlich Fieber – ganz plötzlich und mitten im Sommer und mir ist hundeelend. Ich werde auf ein Zimmer gefahren, bekomme intravenöse Entzündungshemmer, bin total kaputt, kann kaum atmen, frage mich, ob es nun mit mir nun zu Ende geht und schlafe ein. Einige Stunden später erfahre ich, dass ich eine bekannte Nebenreaktion auf das mir neue Medikament hatte. Auch die Einstichstellen der letzten Injektionen waren verhärtet, gerötet und heiβ – und das auch noch in den Folgetagen. Mein Körper hatte also das Medikament bekämpft.
Ich solle mich unbedingt ausruhen und ein paar Tage später mit den Ärzten eine neue Therapie auswählen. Also behalten sie mich fast eine Woche in der Klinik. Kurz bevor ich entlassen werde, kommt ein für mich neuer Neurologe zu mir und erklärt, dass ich offensichtlich zu blöd wäre, mir Spritzen zu setzen und dass meine Reaktion eben eine Folge davon wäre. Er listet kurz die Medikamente auf, die man in der MS-Basistherapie einsetzt und ich solle mich gleich für eines entscheiden. Jetzt müssen Sie an dieser Stelle wissen, dass die Mehrzahl der Präparate auf Interferonen basiert, die ich in meiner ersten Therapie bereits schlecht vertragen hatte. Eine andere Wirkstoffklasse ist durch meine heftige Reaktion, die mich hierhergebracht hatte, nun auch ausgeschlossen worden. Und so durfte ich mich noch entscheiden zwischen Tabletten (von denen man täglich zwei Stück einnimmt), die recht häufig Übelkeit, Erbrechen, Magenschmerzen, Magenblutungen und dergleichen auslösen.[12] Und einem Mittel, das man 1,5 Jahre vor Beginn einer Schwangerschaft absetzen muss, um eine Gefährdung des Fötus auszuschlieβen und daher bereits etwas toxisch anmutet. Und nebenbei unter anderem Infekte fördert, sehr häufig auch Durchfall, Übelkeit, Haarausfall und Missempfindungen der Haut.[13] Wofür würden Sie sich an dieser Stelle entscheiden? Ich hatte echt Mühe. Habe meine Bedenken geäuβert und der Arzt erwiderte nur recht harsch, dass ich ein Medikament nehmen MUSS und verabschiedete sich.
Nun ja, dieser Arzt muss seinen Körper nicht solchen Medikamenten aussetzen – schon gar nicht dauerhaft. Er weiβ nicht, wie es sich anfühlt. Er weiβ, dass sie viele Nebenwirkungen mit sich bringen, dass man sich dauerhaft schlecht fühlt, aber erlebt hat er sie nicht. Und da muss ich wirklich aus meiner Perspektive heraus sagen, dass ich ein solches Verhalten recht anmaβend finde! Es wird mit der Angst der Patienten gespielt, die sich an ihre Hoffnung klammern, dass sich ihr Krankheitszustand durch die Gabe von Medikamenten nicht verschlechtern wird und büβen damit oft erhebliche Lebensqualität im Hier und Jetzt ein. Das sollte an dieser Stelle auch mal gesagt werden dürfen.
Ich soll also bei mir weiterhin mit Kanonenkugeln schieβen. Ins Blaue hinein, auf etwas, das man gar nicht kennt. Mit der Abrissbirne groβflächig eingreifen, um eventuell möglicherweise irgendwie die Ursache zu treffen – wenn überhaupt.
Natürlich ist es gut zu wissen, dass es bereits Medikamente auf dem Markt gibt. Dass sie entwickelt wurden und dass auch weiter an neuen geforscht wird – denn dies ist nicht unbedingt bei jeder Krankheit der Fall. Die Medikamente müssen verschiedene klinische Studienphasen durchlaufen, bevor sie von den Behörden zugelassen werden. Dies dauert in der Regel einige Jahre. Die Studienaufzeichnungen werden schliesslich von den Zulassungsbehörden geprüft. Es findet also eine Kontrolle durch die Behörden statt, bevor das Medikament auf den Markt kommt und vom Arzt verschrieben werden darf. Das ist ein wichtiger Schritt, um sicherzustellen, dass das Medikament gewissen Qualitätsansprüchen genügt und einen möglichen Benefit für den Patienten liefert. Im Falle eines MS-Medikaments besteht (nach bisherigem Stand) der mögliche Benefit nicht in einer Heilung, einer Besserung des Zustandes des Patienten oder gar einer Verhinderung des Krankheitsgeschehens. Der mögliche (!) Benefit liegt einzig im Verlangsamen des Voranschreitens der Krankheit. Doch dieser mögliche Benefit ist leider nicht so gross, wie es gerne von Pharmavertretern und Ärzten suggeriert wird! Und er ist schwer messbar, da es eben keinen klaren Biomarker gibt, den man hierfür heranziehen könnte.