Ich nehme die MRT-Aufnahmen meines Hirns mit zu dem Termin, den ich in der neurologischen Klinikambulanz wahrnehme. Ich nehme nicht nur diese Aufnahmen mit. Ich habe inzwischen einen Ordner mit Arztbriefen und den zwei MRT-Aufnahmen von Rückenmark und Hirn und bin mir sicher, dass die Menge des Ordnerinhalts beständig wachsen wird. Meine Mutter begleitet mich wieder. Sie wollte es so und das ist für mich ok. Wir warten trotz Termin einige Zeit. Die Ergebnisse der Liquordiagnostik sind nun da. Man hat also darin Antikörper (diagnostiziert als oligoklonale Banden), gefunden, die auf Entzündungsprozesse hinweisen – wodurch die vorläufige Diagnose MS noch weiter erhärtet wird, auch wenn ich diese weiterhin nicht schriftlich vorliegen habe. Mir wird erklärt, dass es einige zum Teil gröβere Entzündungen in meinem Rückenmark gab und ich daher mit einem schwereren Verlauf der Krankheit zu rechnen hätte. Dass es wohl besser wäre, wenn das Hirn stärker betroffen wäre als das Rückenmark anstatt umgekehrt wie in meinem Fall. Tolle Aussichten für eine Anfang 30-Jährige. Da erscheint mir meine verstärkte Cellulite der letzten Wochen doch geradezu unwichtig!
Der Arzt fragt mich, wer noch in meiner Familie MS hätte und ich antworte „Keiner“! Ich frage, ob es erblich ist und erhalte keine klare Antwort darauf. Man rät mir, auf Fleisch zu verzichten, denn dies könne das Krankheitsgeschehen möglicherweise auslösen oder verstärken. Man gehe davon aus, dass das Auftreten von Schüben ähnlich wie bei Rheuma oder Gicht auf entzündungsfördernde Stoffe im Fleisch zurückzuführen wäre. Ich erzähle ihm, dass ich seit 20 Jahren Vegetarierin bin und so betrachtet gemäβ dieser Theorie gar nicht erst hätte an MS erkranken bzw. diesen Schub hätte erleiden können. Damit ist dieses Thema beendet. Aber wer weiβ, vielleicht wäre ich stärker betroffen, wenn ich Fleisch essen würde? Das werde ich wohl nicht herausfinden!
Ebenso wird mir zur regelmäβigen Einnahme von Vitamin D geraten. Denn in Ländern, die weiter vom Äquator entfernt liegen, gäbe es mehr MS-erkrankte Patienten als in Äquatornähe. Mir als Naturwissenschaftler stellte sich da eher die Frage, ob in äquatornahen Ländern (die tendenziell weniger zu den reichen Ländern der Erde zählen) verhältnismäβig weniger Diagnostik betrieben wird, und damit auch weniger MS-Patienten als solche diagnostiziert werden. Klar befürworten noch ausschlieβen lässt sich keine der beiden Theorien und so beschlieβe ich, regelmäβig Vitamin D zu supplementieren, in der Hoffnung, dass es mir helfen wird. Aber auch dieses fettlösliche Vitamin kann gerade in sehr hohen Dosen (zu denen mir als MS-Patient geraten wurde) auf längere Sicht für den Körper schädlich sein und sollte daher mit Vorsicht eingenommen werden.[10],[11]
Als nächstes rät mir der Arzt, als Anfang 30-Jährige doch am besten bald schwanger zu werden, denn während der Schwangerschaft reduziere sich die Schubwahrscheinlichkeit. Ich soll also laut diesem Arzt ein Kind zum Selbstzweck in die Welt setzen, das auβerdem eine gewisse (wenn auch nicht klar bennenbare) Wahrscheinlichkeit vererbt bekommen wird, auch an MS zu erkranken. Und überhaupt, wie stellt man sich das denn vor? Dauerschwanger sein? Und wer hat dann die Energie, sich um die zwanzig Kinder zu kümmern? Ich sicherlich nicht! Mal abgesehen davon wurde nicht erwähnt, dass nach der Schwangerschaft die Schubwahrscheinlichkeit zeitweilig verstärkt vorhanden ist. Dies durfte ich später dem Internet bei einer eigenen Recherche entnehmen. Auf eine solche Info eines Arztes war ich wirklich nicht vorbereitet! Vermutlich hatte ihn seine dreifache Vaterschaft etwas blind gemacht für die Bedürfnisse seiner Patientinnen.
Diese Krankheit betrifft in erster Linie das zentrale Nervensystem und beeinträchtigt daher weniger die Fortpflanzungsfähigkeit. Ob Sie Kinder in die Welt setzen sollen oder nicht, bleibt auch wiederum Ihnen überlassen. Natürlich kann man abwägen, ob man möchte, dass sich Ihre potenziellen Kinder später emotional für Ihre Pflege verpflichtet fühlen. Oder noch wichtiger: Ob Sie denn körperlich überhaupt in der Lage sind, Ihre Kinder aktiv beim Aufwachsen zu unterstützen. Aber das kann Ihnen niemand im Voraus sagen. Prinzipiell gibt es (je nach Stärke der körperlichen Beeinträchtigungen) Pflege, die Sie in Anspruch nehmen können, und daher nicht notwendigerweise an Ihren Kindern hängen bleibt. Inwieweit dies durch Krankenkasse bzw. Pflegeversicherung abgedeckt ist, müssten Sie individuell klären.
Was die aktive Unterstützung beim Aufziehen Ihrer Kinder betrifft, hilft es z.B. wenn man ein Umfeld hat, dass einen hin und wieder unter die Arme greifen könnte. Wie vorher schon erwähnt: Ihre Krankheit muss nicht unbedingt voranschreiten, aber die Angst ist da. Und dabei ist es sicherlich hilfreich, wenn man auf ein Back-up zurückgreifen kann. Wenn dieses nicht vorhanden ist, heisst dies nicht unweigerlich, dass sie es nicht gut allein schaffen, aber die Entscheidung fällt möglicherweise etwas schwerer.
Heutzutage überlegen sich junge Leute, ob sie überhaupt Kinder in diese Welt setzen sollen. Eine Welt, die unsere Gesellschaft schon seit Jahrzehnten zerstört und erfolgreich zur Klimaerwärmung beigetragen hat. Sehen Sie daher Ihre Erkrankung als eines von vielen Puzzle-Teilchen, die Sie in Ihre Entscheidungsfindung einbeziehen sollten. Aber nicht unbedingt als die einzige Komponente!
Wenn Sie schulmedizinisch betreut werden und einen Kinderwunsch haben, berücksichtigen Sie hierbei bitte Folgendes: Es gibt MS-Medikamente, die lange Zeit vor dem Schwangerwerden abgesetzt werden müssen, um eine potenzielle Schädigung des Fötus zu verhindern. Dies gilt vor allem für Frauen, dennoch wäre auch eine ärztliche Abklärung hinsichtlich Erbgutschädigung auch für potenziell werdende Väter anzuraten. Die Tatsache, dass manche Medikamente sogar 1,5 Jahre vor Schwangerschaftsbeginn nicht mehr eingesetzt werden dürfen, zeigt eigentlich schon, dass es hierbei um Medikamente geht, die weitreichend in das körperliche Geschehen eingreifen und eben auch toxische Komponenten beinhalten. Besprechen Sie dies unbedingt mit Ihrem Arzt!
Der Arzt erklärt mir auβerdem, welche Medikamente es für eine MS-Therapie gibt. Danach sollte ich vor dem Behandlungszimmer überlegen, was ich gerne hätte und bekomme dafür sogar gleich einen Zettel für ein Medikament in die Hand gedrückt, das ich unterschreiben soll. Denn sein Favoriten-Medikament sei neu und befinde sich daher noch in Phase 4 der Zulassung. Das heiβt, es wurde durch die Behörden bereits zur Therapie zugelassen, da es die ersten 3 Phasen bereits erfolgreich durchlaufen hat. Aber man weiβ nur wenig über Verträglichkeit und Langzeitfolgen und ist daher als Patient zum Studienobjekt geworden. Angeblich wäre dieses Medikament für den Patienten deutlich angenehmer als die Vorgängermedikamente der gleichen Wirkstoffklasse, denn man muss es sich nicht alle 1-2 Tage injizieren, sondern nur alle zwei Wochen. Insgesamt gibt es noch nicht allzu viele Medikamente bzw. Wirkstoffklassen zur Behandlung von MS auf dem Markt. Das erste MS-Medikament war erst Anfang der 2000er in Europa erhältlich. Und wenn der Arzt das neue Medikament nun anpreist, welches so viel verträglicher wäre als die Vorgänger, dann wird er bestimmt wissen, was den Patienten am besten bekommt. Also unterschreibe ich und finde mich kurz darauf im Zimmer der Study Nurse ein, denn ich bin ja nun Studienobjekt geworden. Ich bekomme eine kleine Einweisung, wie ich mir dieses Medikament subkutan verabreiche, darf mir die erste Dosis unter Aufsicht selbst spritzen und bekomme auβerdem eine schicke Tasche mit dem Logo der Firma, die das Medikament vertreibt, inklusive Desinfektionstüchern und Werbematerial. Nach insgesamt 3 Stunden ambulanten Klinikaufenthalt (und davon war das meiste mit Abstand reine Wartezeit trotz Termin) darf ich endlich nach Hause. Wenigstens habe ich nichts direkt für das Firmenlogo-bestickte Accessoir zahlen müssen, um als Werbetafel (Tasche mit Firmenlogo) herumlaufen zu dürfen – wie es bei mancher (Sport-)Bekleidung der Fall ist.