Standort-Bestimmung

Daher räume ich mir selber etwas Bedenkzeit ein, recherchiere im Internet, lese Bücher und wissenschaftliche Literatur. Ich besuche sogar eine öffentliche Infoveranstaltung in einer anderen Klinik. Es ist Samstagvormittag und ich bin gespannt, welche Infos ich erhalten werde. Ich betrete schlieβlich die Klinik und laufe den Gang entlang, um zu dem Raum zu gelangen, in dem mich die neuesten Informationen erwarten. Vor diesem Raum sind einige Stände aufgebaut, an denen für verschiedene MS-Medikamente geworben wird. Es sind also Pharmavertreter, die Broschüren, Kugelschreiber, USB-Sticks and anderen Krimskrams mit ihrem Firmenlogo unter die MS-Patienten bringen wollen und sich als kompetente Krankheitsbegleiter anpreisen. Das hätte ich nun wirklich nicht erwartet! Ich setze mich in den kleinen Hörsaal, der sich nach und nach füllt und bin gespannt, was mich nun erwarten wird. Der Arzt zeigt Listen der MS-Medikamente und in welcher Phase der Erkrankung man welches Medikament anwenden sollte. Angefangen von der Basistherapie bis zur Immunsuppression mit Chemotherapeutika. Und auch wenn diese Veranstaltung nicht als solche angepriesen wurde, empfand ich sie doch in gewisser Weise als Werbeveranstaltung für die Medikamente und weniger als hilfreiche Anlaufstelle für den Patienten zum Umgang mit seiner Krankheit. Aber klar, die Schulmedizin richtet sich eben hauptsächlich nach verfügbaren MS-Medikamenten. Und da gibt es häufig leider kein Hinausschauen über den Tellerrand. Vermutlich werden solche Infoveranstaltungen nur angeboten, da es eben Sponsoren gibt – nämlich seitens der Pharmaindustrie. Und das, obwohl Sie als Patient eigentlich auch ohne Sponsoring solche Informationen von Ihrem Arzt erhalten sollten! Da fragt sich natürlich auch, wie krank denn unser Gesundheitssystem ist!

Daheim angekommen schaue ich mir Broschüren über meine angebliche Krankheit an, die mir die Pharmavertreter gegeben hatten. In einer Broschüre wird einem Kind in einem Comic beschrieben, dass die Mama hin und wieder mal etwas fallen lässt, weil böse Antikörper die Nervenzellen zerstören. Dem Kind wird suggeriert, dass es nachsichtig mit der Mama sein soll. Ein Rollstuhl ist nicht zu sehen; über Blasen-, Darm-, Schluck-, Sprach-, Seh- und sexuellen Funktionsstörungen, Fatigue, Empfindungs­störungen, Depressionen, Muskelsteife, kognitiven Störungen und Nervenschmerzen wird kein Wort verloren und ich denke mir: Na, wenn es nur dabeibleibt, hin und wieder etwas fallen zu lassen, dann sind die Aussichten ja nicht so schlecht! Dass es bei Entzündungen der Nerven für Herz- und Lungenimpulse sogar noch schlimmer ausgehen könnte, passt ebenfalls nicht in dieses farbenfrohe Comic! Warum also mache ich mir Sorgen über eine düstere Zukunft?

Aber wer weiβ schon, wie weit die Krankheit voranschreitet? Niemand gibt mir eine klare Antwort. Klar, wie will man eine Krankheit treffend beschreiben, die als “die Krankheit mit den 1000 Gesichtern” bekannt ist und bei jedem anders verläuft? 1 von 1000 Gesichtern ist meines. Es kann ganz schlimm werden, oder eben auch nicht. Ich für meinen Teil weiβ, dass ich die vergangenen Wochen schlimm fand. Bei weitem nicht so schlimm, wie den Tod meines engen Freundes, aber eben doch sehr weit weg von einfach.

Im Nachhinein betrachtet, würde ich schwer davon ausgehen, dass der plötzliche Tod meines Freundes der Auslöser für diesen heftigen Schub war, was mich zu einem späteren Zeitpunkt dazu bringen wird, mir über die Wichtigkeit einiger Dinge im Leben klar zu werden und mir über verschiedene Entspannungstechniken Gedanken zu machen.

Ich besuche meinen Neurologen, der mich wieder an die Klinikambulanz verweist. Man hat ja sonst nichts zu tun, als von Arzt zu Arzt zu rennen. Wenn ich dafür Geld bekommen würde, könnte ich mir auf diese Weise sicherlich gut ein kleines Vermögen erwirtschaften. Aber wie sich herausstellt, befinde ich mich dafür auf der falschen Seite der Nahrungskette. Und so finde ich mich schlieβlich wieder in der neurologischen Ambulanz ein. An diesem Tag ist glücklicherweise eine -aus meiner Sicht- kompetentere Ärztin für mich da, als derjenige, der mir wenige Monate zuvor zu einer Schwanger­schaft als Supertherapie geraten hatte. Ich wies Sie kurz auf die seltsamen Ratschläge hin und mir wurde versichert, dass der Fleischkonsum doch keinen Effekt aufs Krankheitsgeschehen hätte und auch die Vitamin D-Gabe keine nachweislich gesicherte Wirkung zeigen würde. Im Klartext: Niemand weiβ so recht, wie man das Krankheitsgeschehen positive beeinflussen kann und selbst die Ratschläge von vor ein paar Monaten werden revidiert.

Ich zeige ihr den Arztbrief von meinem Notfallklinik-Aufenthalt und mir wird erklärt, dass ich eine bekannte Reaktion auf das Medikament hatte. Und dass es sich dabei nicht um einen Fehler meinerseits beim Injizieren des Medikaments handeln würde, der allgemein als „Flush“ bekannt ist. Denn so ein Flush hätte sofort nach der Injektion auftreten müssen und wäre nach spätestens einer halben Stunde wieder vorbei gewesen. Diese Information findet sich sogar in der Packungsbeilage des Medikaments [14] und hätte dem netten Neurologen in der Klinik damals eigentlich auch bekannt sein dürfen.

Die Ärztin erklärt mir auβerdem, dass sie und ihre Kollegen eine so heftige Reaktion auf das Medikament (wie ich sie hatte) schon bei einigen Patienten beobachtet hätten und es wäre im Prinzip nur eine Frage der Zeit, wann solche Abwehrreaktionen auftreten würde. Sehr beruhigend, dass der Fehler nicht an mir lag. Sehr beunruhigend, dass ich nur eine von vielen bin, die eine so unschöne Nebenwirkung des Medikaments verspüren mussten.

Laut dem Arztbrief von meinem Notfall-Klinikaufenthalt solle weiterhin mein Kaliumspiegel geprüft werden, da mein Blutdruck ja etwas aus dem Rhythmus geraten war. Nun wird mir erklärt, dass der Kaliumspiegel keinerlei Aussagefähigkeit hätte und er daher nicht überprüft werden müsse. Ich bin mir sicher, dass man mich als dummen Patienten abgetan hätte, wenn ich das Monitoring des Kaliumspiegels selbst angesprochen hätte. Aber nun stand es ja im Arztbrief und ich hatte mal wieder nicht das Gefühl, dass alle Ärzte wissen, was sie tun.

Mir wird nun nahegelegt, nicht weiter in der MS-Basistherapie zu bleiben, sondern eine Stufe höher zu steigen und mich nicht mehr immun-modulieren, sondern immun-supprimieren zu lassen. Mir wird ein Medikament genannt, das bisher für die Krebstherapie zugelassen ist und wofür ich bei meiner Krankenkasse eine Genehmigung einholen muss, um das Medikament als off-label-use zu erhalten. Off-Label-Use, weil das Medikament bis dahin nicht für die MS-Therapie zugelassen ist, sondern eben nur zur Krebstherapie. Ich solle also nicht nur für eine kurzzeitige Anwendung, sondern regelmäβig ein Krebsmedikament verabreicht bekommen, dessen Patentschutz als Krebsmedikament vor kurzem abgelaufen war. Meine Krankenkasse hätte es sicherlich befürwortet, denn es kostete nur etwa 1/10 von dem, was sie sonst für MS-Medikamenten hätte zahlen müssen. Ich bekomme wenigstens noch den Hinweis, dass es in früheren Studien bereits Todesfälle gab – woran genau die Probanden verstorben wären und ob es im Zusammenhang mit diesem Medikament stehe, wüsste sie nicht. Mir wird ein Arztbrief in die Hand gedrückt, den ich an meine Krankenkasse schicken soll. Er besagt, dass ich unbedingt dieses Medikament im off-label-use bräuchte. Und obwohl eine gewisse Dringlichkeit suggeriert wurde, hat dieser Brief bis heute seinen Weg nicht zu meiner Krankenkasse gefunden.

Selbst wenn man nun keine Gewinnabsichten von Pharmaunternehmen an langfristigem Patienten­kollektiv (da chronisch- aber nicht sterbenskrank und somit längerfristig vorhanden und abhängig) unterstellen mag, bleibt ein Krebsmedikament ein Krebsmedikament und ist bekanntermaβen immun­supprimierend. Daher bringt es schon von Haus aus gravierende Nebenwirkungen mit sich, auf die an dieser Stelle nicht weiter eingegangen werden muss. Dies führt im Allgemeinen nicht unbedingt zur Motivationssteigerung, sich einem solchen Medikament auszusetzen.

War Ihnen bisher bewusst, dass präklinische Studien, also Tierversuche gar nicht an MS-erkrankten Tieren stattfinden? Wie denn auch? Man weiβ bisher immer noch nicht, was der Auslöser der Krankheit ist, und kann sie deshalb auch nicht gezielt hervorrufen. Es werden daher andere Erkrankungen herangezogen, die aber eben nicht MS sind und daher einen anderen Einfluss des Medikaments auf das Krankheitsgeschehen erwarten lassen.

Wenn es nach den Tierversuchen doch an die klinischen Studien geht, also an die Medikamenten­studien am Menschen, werden keine klaren Parameter wie z.B. Blutwerte zur Auswertung herangezogen, denn die gibt es nach bisherigem Stand der Wissenschaft nicht – obwohl manche Blut­parameter dennoch in der wissenschaftlichen Literatur als auffällig bei MS beschrieben wurden.[21],[22] Ich hatte mich kürzlich mit jemandem aus dem Diagnostikbereich darüber unter­halten. Man könnte doch den Fokus mehr auf die Blutdiagnostik legen. Zum einen, um bereits am Blutbild Hinweise auf eine vorliegende MS-Erkrankung zu erhalten und somit möglicherweise die Zeitspanne zwischen ersten Symptomen und Erstdiagnose zu verkürzen. Zum anderen, um die MS-Erkrankung und deren Ursache besser verstehen zu können. Vielleicht wäre es nicht ein einzelner Parameter, sondern mehrere, die zusammen auf ein Vorliegen von MS hinweisen. Es gibt auch andere neurologische Erkrankungen, die offensichtlich mit erhöhten bzw. veränderten Blutwerten in Verbindung stehen, wie z.B. bei Parkinson oder Alzheimer.[23],[24] Eine Verbindung zwischen Nerven und Blut scheint somit durchaus vorhanden – und das vermutlich sogar nachweislich. Doch anstatt den Fokus mehr auf die Mustererkennung verschiedener Blutparameter zu legen, konzentriere man sich im Diagnostikbereich lieber auf das Monitoring der schulmedizinischen Therapien. Da man offensichtlich mit diagnostischen Verfahren der Ursache und den systemischen Zusammenhängen nicht auf den Grund gehen möchte, stellt sich natürlich die Frage nach den Interessen von Diagnostik- und Pharmaindustrie, die unter Umständen miteinander verwoben sein können.

Statt sich also auf klare Parameter zu konzentrieren, orientiert man sich bei der Zulassung von Medikamenten an etwas schwammigen Parametern wie Schubdauer und Schubwahrscheinlichkeit. Aus meiner Erfahrung heraus kann ich sagen, dass ich diese Parameter nicht klar definieren konnte. Ich kann nicht genau benennen, wann die Symptome begonnen haben, da sie zunächst unterschwellig vorhanden waren, überdeckt von meiner Trauer und sich im Laufe der Zeit erheblich verstärkten. Auch kann ich nicht benennen, wann mein Schub klar zu Ende war, da die ultrahohen Dosen Cortisol eben auch einige Nebenwirkungen mit sich brachten, wie Kraftlosigkeit und Erschöpfung, so dass eine klare Abgrenzung für mich hierdurch einfach nicht möglich ist. Ich könnte noch nicht einmal genau benennen, ob diese Cortisol-Therapie tatsächlich den Schub beendet hat, da eine Besserung der Symptomatik nicht schlagartig nach Medikamentengabe einsetzte. Auβerdem zeichnet sich eine schubförmige Krankheit ohnehin dadurch aus, dass sie schubförmig verläuft – auch ohne Gabe von Medikamenten. Und da ich bisher bei mir nur einen Fall (also einen behandelten Schub) zu verzeichnen habe, ist es statistisch betrachtet ohnehin schwierig, eine direkte Beziehung in meinem Fall herzustellen. Ich möchte an dieser Stelle darauf hinweisen, dass ich der Therapie nicht jegliche Wirksamkeit abspreche. Aber ich möchte Sie sensibilisieren, dass es nicht unbedingt der Fall sein muss! Wenn die Therapie hilft, umso besser! Dann nutzen Sie diesen Vorteil für sich! Aber seien Sie bitte nicht völlig enttäuscht, wenn dem doch nicht so ist. Und vor allem: Lassen Sie sich bitte nicht mitreiβen von diesem Schwarz-Weiss-Denken, das im schulmedizinischen Rahmen leider noch zu häufig anzutreffen ist. Hören Sie besser in sich hinein. Denn Sie treffen die Entscheidungen für sich und Ihren Körper!

Hilfreich für mich war definitiv überhaupt eine Diagnose zu bekommen. Zu wissen, dass es wirklich eine organische Ursache gibt, die die Symptome verursacht hat. Des Weiteren war es für mich zunächst gut gewesen, eine Therapie während des akuten Schubs zu erhalten, schon allein weil ich das Gefühl hatte, dass man die Krankheit behandeln kann – ob nun schulmedizinisch und/oder alternativ sei mal dahin gestellt.

So etwas ist aus psychologischer Sicht sehr wichtig und unterstützt schon allein dadurch den Genesungsprozess. Ich möchte im Allgemeinen darauf hinweisen, dass man als Patient häufig mit dem Bild konfrontiert wird, seinen Körper bekämpfen zu müssen, damit er sich nicht weiter zerstört. Aus meiner Sicht heraus ist dies nicht der beste Ansatz, denn es wird wieder mit der Angst gespielt. Sinnvoller wäre es doch, eine Therapie – ob schulmedizinisch oder alternativ – als Unterstützung zu begreifen, die einem helfen soll, den Körper in die richtigen Bahnen zu lenken. Der Körper hat -meines Empfindens nach- nicht die Absicht, sich selbst zu zerstören und das wäre evolutionär betrachtet auch etwas gegen die Natur. Es deutet vielmehr daraufhin, dass der Körper daran arbeitet, Probleme zu beseitigen (was ja schon das Vorhandensein von Antikörpern aufzeigt), dabei aber übers Ziel hinausschieβt. Bereits vor einigen Jahren wurde ein Zusammenhang zwischen dem Auftreten von MS-Erkrankungen und dem Epstein-Barr Virus hergestellt, denn MS-Erkrankte sind zu nahezu 100% mit diesem Virus infiziert. Dies wurde unter anderem in Studien mit ca. 1000 MS-Erkrankten demonstriert.[29] Es scheint also durchaus Faktoren zu geben, die u.a. aufgrund von Infektionen/Virus-Erkrankung(en) bei MS-Erkrankten generell vorhanden sind und auf das Bekämpfen von Krankheitserregern hinweisen – und weniger auf eine Selbstzerstörung aus Böswilligkeit oder Langeweile. Dieser Virus ist vermutlich nur eines von mehreren Puzzle-Teilen, auf das der Körper bei MS-Erkrankten reagiert. Möglicherweise sogar anders reagiert als bei Menschen, die nicht an MS erkrankt sind. Denn weltweit sind etwa 90% der Menschen mit diesem Virus infiziert, aber nicht jeder Infizierte hat MS.[30] Ob die Viruserkrankung und andere Faktoren zusammen letztendlich die MS-Erkrankung auslösen, müsste in der Zukunft noch genauer untersucht werden.

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