Symptome und Diagnose

In den kommenden Wochen bemerke ich ein Kribbeln in den Füssen. Zunächst an den Zehen, das sich in den nächsten zwei Wochen immer weiter ausbreitet. Ich fühle mich so, als würde ich auf einem Nadelkissen laufen und denke unweigerlich an die Nagelbretter der Fakire. Ich frage mich, warum diese sich freiwillig so etwas antun und wie man so etwas nicht als unangenehm empfinden kann.

Ich gehe zum Arzt, dessen pensionierte Urlaubsvertretung auf einen Vitaminmangel tippt – bei einem Ovo-Lacto-Vegetarier! Das Erstellen des Blutbildes dauert einige Tage und zeigt wunderbare Werte innerhalb der Referenzbereiche. Ich bin inzwischen bei der zweiten Urlaubsvertretung -einer jungen Ärztin- angelangt. Also werden neue Blutbilder angefordert, um Mangelzustände anderer Parameter zu finden. Und wieder ziehen einige Tage ins Land – ohne Behandlung und ohne Diagnose. Meine Beine sind inzwischen schwer geworden. Mir kommen die Dalton Brothers in den Sinn, die Eisenkugeln hinter sich herziehen, nachdem Lucky Luke sie eingebuchtet hat. Doch habe ich nichts verbrochen.

Man kann weiterhin nichts Auffälliges in meinen Blutproben finden. Dass etwas grundlegend nicht stimmt, fühle ich deutlich! Auch wenn mir das die Ärzte nicht ansehen! Ich bin müde, erschöpft von den schweren Eisenkugeln und der Tatsache, dass man die Ursache nicht identifiziert. Ich entschlieβe mich dazu, mich selbst in die neurologische Abteilung eines Universitätsklinikums einzuweisen. Es ist inzwischen Mitte März geworden. Und meine Beine fühlen sich an, wie aus Holz. So, als würden sie gar nicht mehr zu mir gehören.

Ich werde gleich stationär aufgenommen und muss einige Tests absolvieren. Auf einem Bein hüpfen, den Zeigefinger bei geschlossenen Augen zur Nasenspitze führen, auf einer Linie laufen. Ich darf auβerdem zu einem Schachbrett-Test, der sich wenigstens nett anhört. Danach folgt die Elektroneurografie -ein Test, der sich weniger nett anhört und anfühlt. Denn man bekommt Elektroden zum Teil mit kleinen Nadeln in die Haut gepresst -auf dem Kopf und an den Füssen- um die Reizleitung von Kopf bis Fuβ zu untersuchen. Dies ist zunächst nicht sonderlich schlimm, bis ein äuβerer Stromimpuls angelegt wird. Das fühlt sich in etwa so an, als wenn jemand hinter mir steht und unvermittelt mit einem Brett auf meinen Kopf einprügelt. Dieses Empfinden ist zwar nur sehr kurzweilig, hinterlässt aber einen bleibenden Eindruck, den man nach Möglichkeit nicht wiederholen möchte. Später bekomme ich eine groβe Nadel zwischen meine Lendenwirbel gerammt, was allgemein als Lumbalpunktion bekannt ist. Auch dieses gehört sicherlich nicht zu den schmerzfreiesten diagnostischen Verfahren, aber wenn es der Ursachenforschung dient, nimmt man so einiges in Kauf. Es ist inzwischen Abend geworden, ich bin seit einiger Zeit wieder in meinem Zimmer und mache mich bettfertig.

Mit mir im Zimmer liegen noch zwei Damen. Eine davon ist Anfang 20 und liegt schon 3 Wochen hier. Die Schwestern bringen ihr selbst nachts Blutverdünner, denn sie hat eine Hirnthrombose, die kontinuierlich behandelt werden muss. Sie darf nicht alleine aufstehen und liegt die ganze Zeit – seit 3 Wochen. Frauenärzte sollten wirklich nicht leichtsinnig die Pille verschreiben!

Die andere Dame ist älteren Semesters. Sie hat Bauchspeicheldrüsenkrebs – also dieselbe Krebsart, an der ihr Mann erst kürzlich verstorben ist. Die Chemotherapie hat bei ihr Spuren hinterlassen, so dass sie nun auβerdem an Neuralgien leidet und aus diesem Grund in der Neurologie liegt.

So betrachtet geht es mir gut!

Wir drei liegen also in unseren Betten, kein Licht brennt mehr und plötzlich geht die Tür auf. Es ist 22:30 und ein Pfleger rollt einen Rollstuhl an mein Bett. Er soll mich zum MRT bringen und ich dürfe diese Strecke nicht zu Fuss zurücklegen. Also setze ich mich -bekleidet mit meinem Schlafanzug- ein erstes Mal in meinem Leben in einen Rollstuhl, und lasse mich durch die Gänge schieben. Es fühlt sich komisch an, so passiv innerhalb eines Gebäudes von einem Ort zum anderen gebracht zu werden, wo ich doch noch laufen kann. Und nun frage ich mich in meinem Schlafanzug, warum ich nach dem Einchecken ins Klinikum nicht auch mit einem Rollstuhl auf mein Zimmer gebracht wurde. Mir wird erklärt, dass man es nach einer Lumbalpunktion eben ruhiger angehen lassen solle.

Ich bin nun in der Radiologie angekommen, darf meinen Schlafanzug gegen ein leichtes Kranken­haus­hemdchen tauschen und alles Metall aus mir entfernen. Ist nicht immer so leicht, seine Piercings alleine zu öffnen und braucht teilweise etwas Zeit. Hätte ich vorher gewusst, dass ich ins MRT soll, hätte ich sie mir vorab schon auf meinem Zimmer in aller Ruhe entfernen können. Bin froh, dass ich nicht auch noch meine Amalgamfüllungen entfernen muss.

Ich liege nun zum ersten Mal in einem MRT und bin erstaunt, wie laut so ein Gerät sein kann. Ich liege 45 Minuten mit Gehörschutz in diesem doch recht beengten Apparat und stelle mir vor, wie ich von Innen aussehen könnte. Ich hoffe, dass man auf den Aufnahmen wenigstens etwas findet, das meine Symptomatik erklären könnte. Trotz Kopfhörer vernehme ich immer wieder dieses laute Klopfen des Gerätes, das sich gut hörbar in meinen Kopf hämmert. Es tut wenigstens nicht weh, ist aber doch gewöhnungsbedürftig. Die Klopffrequenz wechselt und erreicht hin und wieder einen für mich quietschigen Ton. Obwohl es schon so spät ist, und ich unglaublich müde bin, ist an Schlafen nicht zu denken. In diesem Gerät ist es kühl, aber dennoch fühlt sich meine Wirbelsäule warm an. Nach den Aufnahmen bekomme ich keine weiteren Infos, werde aufs Zimmer gefahren und darf endlich schlafen.

Am nächsten Morgen werde ich langsam wach. Im Halbschlaf sehe ich Patrick, wie er neben mir steht und sich freut, dass man nun endlich die Ursache gefunden hat. Er sagt mir auβerdem, dass ich diese Erkrankung schon lange Zeit habe. Noch bevor ich Fragen stellen kann, ist er wieder weg und die Krankenschwester betritt den Raum. Sie will mir eine Infusion anlegen und ich frage, wozu ich die denn bräuchte. Sie schickt einen Arzt zu mir, der mir daraufhin die vorläufige Diagnose mitteilt: Multiple Sklerose. Ich freue mich, dass man mir nun sagen kann, was mit mir nicht stimmt und gleich eine Behandlung einleitet. Später überlege ich, ob ich heulen soll oder nicht. Ich kenne diese Krankheit nicht aus dem näheren Umfeld und mir fallen nur Bilder von Menschen am Gehstock oder im Rollstuhl ein. Und doch weiβ ich nichts über diese Krankheit, und was diese für mein Leben bedeutet.

Noch am Vormittag steht eine Schar angehender Schulmediziner an meinem Bett. Der Oberarzt steht neben mir, nimmt einen meiner Unterschenkel in die Hand und fährt mit seiner Hand leicht über die Haut. Ich wäre am liebsten die Wände hochgegangen – und das, wo das Laufen für mich gerade alles andere als angenehm ist! Denn es fühlt sich in etwa so an, als würden tausende von Nadeln in mein Bein gerammt werden! Ich bekomme keine Fragen gestellt. Zu vernehmen ist der Monolog des Oberarztes. Ich blicke nach vorne in den Haufen weiβer Kittel. Nicht einer der Studenten sieht mir in die Augen. Und nach einer kurzen Ewigkeit bin ich wieder mit meinen Nadeln alleine.

Gegen Abend zeigt mir ein anderer Arzt die MRT-Aufnahmen, zeigt mir die weiβen Flecken des akuten Krankheitsgeschehens und die Narben eines vergangenen Schubes, der mir als solcher nicht bewusst war. Die weiβen Flecken zeigen Wasseransammlungen im Rückenmarksgewebe an und deuten daher auf Entzündungen hin. Da mein Rückenmark auβer akuten Entzündungen eben auch Narben aufweist, deute dies umso mehr auf eine schubförmige chronische Nervenerkrankung – da ich also zu einem vorherigen Zeitpunkt bereits Entzündungen im Rückenmark hatte. Diese Narben erhärten damit den Anfangsverdacht MS. Und somit hatte auch Patrick recht, dass ich diese Erkrankung schon länger habe. Ich vermute, dass mein vorheriger Schub, der nicht ganz so heftig war wie der jetzige, ein paar Jahre zuvor stattgefunden haben müsste – in einer Zeit, in der ich ebenfalls sehr groβem emotionalen Stress ausgesetzt war. Bestätigen lässt sich das nicht, allerdings konnte ich rückblickend einige ähnliche Erschöpfungs- / Fatiguezustände in jener Zeit erkennen. Wie auch immer, diese Analyse hilft mir jetzt erst mal nicht für die Zukunft weiter.

Es stehen noch einige Ergebnisse aus, zum Beispiel das der Liquordiagnostik – also der Analytik der Rückenmarksflüssigkeit, die mittels Lumbalpunktion entnommen wurde. Dieses Ergebnis werde ich erst wenige Wochen später mitgeteilt bekommen.

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