In den kommenden Wochen bemerke ich ein Kribbeln in den Füssen. Zunächst an den Zehen, das sich in den nächsten zwei Wochen immer weiter ausbreitet. Ich fühle mich so, als würde ich auf einem Nadelkissen laufen und denke unweigerlich an die Nagelbretter der Fakire. Ich frage mich, warum diese sich freiwillig so etwas antun und wie man so etwas nicht als unangenehm empfinden kann.
Ich gehe zum Arzt, dessen pensionierte Urlaubsvertretung auf einen Vitaminmangel tippt – bei einem Ovo-Lacto-Vegetarier! Das Erstellen des Blutbildes dauert einige Tage und zeigt wunderbare Werte innerhalb der Referenzbereiche. Ich bin inzwischen bei der zweiten Urlaubsvertretung -einer jungen Ärztin- angelangt. Also werden neue Blutbilder angefordert, um Mangelzustände anderer Parameter zu finden. Und wieder ziehen einige Tage ins Land – ohne Behandlung und ohne Diagnose. Meine Beine sind inzwischen schwer geworden. Mir kommen die Dalton Brothers in den Sinn, die Eisenkugeln hinter sich herziehen, nachdem Lucky Luke sie eingebuchtet hat. Doch habe ich nichts verbrochen.
Man kann weiterhin nichts Auffälliges in meinen Blutproben finden. Dass etwas grundlegend nicht stimmt, fühle ich deutlich! Auch wenn mir das die Ärzte nicht ansehen! Ich bin müde, erschöpft von den schweren Eisenkugeln und der Tatsache, dass man die Ursache nicht identifiziert. Ich entschlieβe mich dazu, mich selbst in die neurologische Abteilung eines Universitätsklinikums einzuweisen. Es ist inzwischen Mitte März geworden. Und meine Beine fühlen sich an, wie aus Holz. So, als würden sie gar nicht mehr zu mir gehören.
Die meisten Erkrankten leiden während eines Schubes an Fatigue (anhaltende Müdigkeit, Erschöpfungssymdrom).[2] Einige haben zudem Gefühlsstörungen in Beinen und/oder Armen. Andere leiden vor allem an Sehstörungen, haben Gleichgewichtsprobleme oder Schwindel. Fatigue selbst ist anfangs nicht unbedingt das offensichtlichste Anzeichen für MS. Wenn Sie mit Fatigue-Symptomen zum Allgemeinarzt gehen, wird man Sie selten gleich zum Neurologen überweisen. Denn Müdigkeit und Erschöpfung lassen sich auf viele andere Auslöser zurückführen, wie etwa Stress, Frühjahrsmüdigkeit oder als Folge eines möglicherweise vorangegangenen Infekts.
Etwas spezifischer wären die Gefühlsstörungen in den Extremitäten oder auch die Sehstörungen. Aber hier kann ich -wie vermutlich auch einige andere Betroffene- aus eigener Erfahrung sagen: Häufig wird MS nicht sofort als Auslöser für Ihre Symptome in Betracht gezogen. Man konzentriert sich zunächst auf anderen Auslösern wie etwa Nährstoff- oder Vitamin-Mangelzuständen. Sei es, weil Sie Vegetarier sind oder möglicherweise dem weiblichen Geschlecht angehören und somit z.B. Ferritin- oder Vitamin-B12-Mangel als naheliegend erscheinen könnten.
Das Problem hierbei ist, dass der Betroffene leider nicht sofort zum Neurologen überwiesen wird, um endlich seine Diagnose zu erhalten. Und somit wertvolle Zeit verstreicht, in der der Körper weiter geschädigt wird. In all dieser Zeit wird weder eine Therapie begonnen, noch bekommt der Patient die nötige Pause, denn ihm fehlt offensichtlich nichts.
Schlimm für den Patienten selbst ist, dass er weiβ, dass etwas grundlegend falsch ist – selbst wenn sämtliche Blutwerte gut aussehen und der Arzt nicht gleich etwas Offensichtliches findet. Das ist ein allgemeines Problem bei dieser Erkrankung: Dass dem Patienten seine schwere Krankheit nicht unbedingt anzusehen ist und er auf andere äusserlich gesund wirkt, obwohl er sich körperlich womöglich hundeelend fühlt.
Natürlich gibt es auch Ärzte, denen die Möglichkeit einer MS-Erkrankung relativ schnell in den Sinn kommt und die eine Überweisung zum Neurologen veranlassen. Im Allgemeinen aber heisst es, dass von den ersten Anzeichen bis zur Diagnose mehrere Jahre vergehen.[3] Eine lange Zeitspanne, in der der Patient nicht weiβ, dass er unheilbar krank ist. Eine lange Zeitspanne, in der diesbezüglich keine Therapie stattfindet – sie es schulmedizinisch und/oder alternativ.
Ich werde gleich stationär aufgenommen und muss einige Tests absolvieren. Auf einem Bein hüpfen, den Zeigefinger bei geschlossenen Augen zur Nasenspitze führen, auf einer Linie laufen. Ich darf auβerdem zu einem Schachbrett-Test, der sich wenigstens nett anhört. Danach folgt die Elektroneurografie -ein Test, der sich weniger nett anhört und anfühlt. Denn man bekommt Elektroden zum Teil mit kleinen Nadeln in die Haut gepresst -auf dem Kopf und an den Füssen- um die Reizleitung von Kopf bis Fuβ zu untersuchen. Dies ist zunächst nicht sonderlich schlimm, bis ein äuβerer Stromimpuls angelegt wird. Das fühlt sich in etwa so an, als wenn jemand hinter mir steht und unvermittelt mit einem Brett auf meinen Kopf einprügelt. Dieses Empfinden ist zwar nur sehr kurzweilig, hinterlässt aber einen bleibenden Eindruck, den man nach Möglichkeit nicht wiederholen möchte. Später bekomme ich eine groβe Nadel zwischen meine Lendenwirbel gerammt, was allgemein als Lumbalpunktion bekannt ist. Auch dieses gehört sicherlich nicht zu den schmerzfreiesten diagnostischen Verfahren, aber wenn es der Ursachenforschung dient, nimmt man so einiges in Kauf. Es ist inzwischen Abend geworden, ich bin seit einiger Zeit wieder in meinem Zimmer und mache mich bettfertig.
Mit mir im Zimmer liegen noch zwei Damen. Eine davon ist Anfang 20 und liegt schon 3 Wochen hier. Die Schwestern bringen ihr selbst nachts Blutverdünner, denn sie hat eine Hirnthrombose, die kontinuierlich behandelt werden muss. Sie darf nicht alleine aufstehen und liegt die ganze Zeit – seit 3 Wochen. Frauenärzte sollten wirklich nicht leichtsinnig die Pille verschreiben!
Die andere Dame ist älteren Semesters. Sie hat Bauchspeicheldrüsenkrebs – also dieselbe Krebsart, an der ihr Mann erst kürzlich verstorben ist. Die Chemotherapie hat bei ihr Spuren hinterlassen, so dass sie nun auβerdem an Neuralgien leidet und aus diesem Grund in der Neurologie liegt.
So betrachtet geht es mir gut!
Wir drei liegen also in unseren Betten, kein Licht brennt mehr und plötzlich geht die Tür auf. Es ist 22:30 und ein Pfleger rollt einen Rollstuhl an mein Bett. Er soll mich zum MRT bringen und ich dürfe diese Strecke nicht zu Fuss zurücklegen. Also setze ich mich -bekleidet mit meinem Schlafanzug- ein erstes Mal in meinem Leben in einen Rollstuhl, und lasse mich durch die Gänge schieben. Es fühlt sich komisch an, so passiv innerhalb eines Gebäudes von einem Ort zum anderen gebracht zu werden, wo ich doch noch laufen kann. Und nun frage ich mich in meinem Schlafanzug, warum ich nach dem Einchecken ins Klinikum nicht auch mit einem Rollstuhl auf mein Zimmer gebracht wurde. Mir wird erklärt, dass man es nach einer Lumbalpunktion eben ruhiger angehen lassen solle.
Ich bin nun in der Radiologie angekommen, darf meinen Schlafanzug gegen ein leichtes Krankenhaushemdchen tauschen und alles Metall aus mir entfernen. Ist nicht immer so leicht, seine Piercings alleine zu öffnen und braucht teilweise etwas Zeit. Hätte ich vorher gewusst, dass ich ins MRT soll, hätte ich sie mir vorab schon auf meinem Zimmer in aller Ruhe entfernen können. Bin froh, dass ich nicht auch noch meine Amalgamfüllungen entfernen muss.
Ich liege nun zum ersten Mal in einem MRT und bin erstaunt, wie laut so ein Gerät sein kann. Ich liege 45 Minuten mit Gehörschutz in diesem doch recht beengten Apparat und stelle mir vor, wie ich von Innen aussehen könnte. Ich hoffe, dass man auf den Aufnahmen wenigstens etwas findet, das meine Symptomatik erklären könnte. Trotz Kopfhörer vernehme ich immer wieder dieses laute Klopfen des Gerätes, das sich gut hörbar in meinen Kopf hämmert. Es tut wenigstens nicht weh, ist aber doch gewöhnungsbedürftig. Die Klopffrequenz wechselt und erreicht hin und wieder einen für mich quietschigen Ton. Obwohl es schon so spät ist, und ich unglaublich müde bin, ist an Schlafen nicht zu denken. In diesem Gerät ist es kühl, aber dennoch fühlt sich meine Wirbelsäule warm an. Nach den Aufnahmen bekomme ich keine weiteren Infos, werde aufs Zimmer gefahren und darf endlich schlafen.
Am nächsten Morgen werde ich langsam wach. Im Halbschlaf sehe ich Patrick, wie er neben mir steht und sich freut, dass man nun endlich die Ursache gefunden hat. Er sagt mir auβerdem, dass ich diese Erkrankung schon lange Zeit habe. Noch bevor ich Fragen stellen kann, ist er wieder weg und die Krankenschwester betritt den Raum. Sie will mir eine Infusion anlegen und ich frage, wozu ich die denn bräuchte. Sie schickt einen Arzt zu mir, der mir daraufhin die vorläufige Diagnose mitteilt: Multiple Sklerose. Ich freue mich, dass man mir nun sagen kann, was mit mir nicht stimmt und gleich eine Behandlung einleitet. Später überlege ich, ob ich heulen soll oder nicht. Ich kenne diese Krankheit nicht aus dem näheren Umfeld und mir fallen nur Bilder von Menschen am Gehstock oder im Rollstuhl ein. Und doch weiβ ich nichts über diese Krankheit, und was diese für mein Leben bedeutet.
Noch am Vormittag steht eine Schar angehender Schulmediziner an meinem Bett. Der Oberarzt steht neben mir, nimmt einen meiner Unterschenkel in die Hand und fährt mit seiner Hand leicht über die Haut. Ich wäre am liebsten die Wände hochgegangen – und das, wo das Laufen für mich gerade alles andere als angenehm ist! Denn es fühlt sich in etwa so an, als würden tausende von Nadeln in mein Bein gerammt werden! Ich bekomme keine Fragen gestellt. Zu vernehmen ist der Monolog des Oberarztes. Ich blicke nach vorne in den Haufen weiβer Kittel. Nicht einer der Studenten sieht mir in die Augen. Und nach einer kurzen Ewigkeit bin ich wieder mit meinen Nadeln alleine.
Gegen Abend zeigt mir ein anderer Arzt die MRT-Aufnahmen, zeigt mir die weiβen Flecken des akuten Krankheitsgeschehens und die Narben eines vergangenen Schubes, der mir als solcher nicht bewusst war. Die weiβen Flecken zeigen Wasseransammlungen im Rückenmarksgewebe an und deuten daher auf Entzündungen hin. Da mein Rückenmark auβer akuten Entzündungen eben auch Narben aufweist, deute dies umso mehr auf eine schubförmige chronische Nervenerkrankung – da ich also zu einem vorherigen Zeitpunkt bereits Entzündungen im Rückenmark hatte. Diese Narben erhärten damit den Anfangsverdacht MS. Und somit hatte auch Patrick recht, dass ich diese Erkrankung schon länger habe. Ich vermute, dass mein vorheriger Schub, der nicht ganz so heftig war wie der jetzige, ein paar Jahre zuvor stattgefunden haben müsste – in einer Zeit, in der ich ebenfalls sehr groβem emotionalen Stress ausgesetzt war. Bestätigen lässt sich das nicht, allerdings konnte ich rückblickend einige ähnliche Erschöpfungs- / Fatiguezustände in jener Zeit erkennen. Wie auch immer, diese Analyse hilft mir jetzt erst mal nicht für die Zukunft weiter.
Es stehen noch einige Ergebnisse aus, zum Beispiel das der Liquordiagnostik – also der Analytik der Rückenmarksflüssigkeit, die mittels Lumbalpunktion entnommen wurde. Dieses Ergebnis werde ich erst wenige Wochen später mitgeteilt bekommen.
MS lässt sich nicht an einem einfachen Blutparameter festmachen. Die Diagnose wird hauptsächlich aufgrund des Gesamtbildes aus MRT-Aufnahmen, Untersuchungen der Nervenleitungen, Reflextests und Liquordiagnostik gestellt und bisher weniger anhand von Blutproben. Denn man konnte bisher keinen eindeutigen Blutparameter identifizieren.
Zu jener Zeit (etwa als ich meine Diagnose bekommen habe) erschienen verschiedene wissenschaftliche Beiträge, die erhöhte Blutgerinnungsfaktoren im Zusammenhang mit der MS-Erkrankung erkannt haben. Dies scheint nicht verwunderlich zu sein, da gerade die Blut-Hirn-Schranke bei dieser Erkrankung im Allgemeinen als gestört beschrieben wird. Blutgerinnungsfaktoren spielen vor allem bei der Blutgerinnung und der Wundheilung eine sehr wichtige Rolle. Ein Mangel eines oder mehrerer Blutgerinnungsfaktoren führt zu unzureichendem Wundschluss und allgemein als Hämophilie bzw. Bluterkrankheit bekannt. Im Zusammenhang mit MS wurden allerdings erhöhte Werte verschiedener Blutgerinnungsfaktoren festgestellt. Möglicherweise könnten sich in zukünftigen Studien hieraus Blut-Biomarker zur MS-Diagnostik ableiten oder sogar der Fokus der Ursachen- bzw. Krankheitserforschung auf diesen Bereich konzentrieren.