Vorgeschichte

Weihnachten steht vor der Tür. Es ist der 23. Dezember 2015 und ich treffe mich wie jedes Jahr mit meinen Freunden auf dem Weihnachtsmarkt. Es ist kalt, aber zum Glück gibt es warmen Punsch und Glühwein, herzliche Umarmungen und jede Menge Gesprächsstoff. Wir bewundern die weihnachtliche Handwerkskunst, geniessen ungesunden Süsskram und lassen es uns einfach gut gehen. Es ist wunderbar, alle gesund und munter um mich herum zu wissen.

Irgendwann neigt sich der Abend dem Ende zu und ein Teil von uns macht sich auf zum Bahnhof, wo wir in unterschiedliche Züge steigen. Doch wir sind ein bisschen zu früh am Bahnhof und unsere Züge sind noch nicht eingetroffen. Wir warten also noch eine kleine Weile und überlegen uns, wo uns unsere Lebensreisen im nächsten Jahr hinführen werden, welche Wege wir einschlagen werden und überlegen, was das Universum noch mit uns vorhaben könnte. Patrick erzählt, dass es eine Theorie gibt, wonach die Planeten im Universum so angeordnet wären, wie Neuronen im Mäusehirn. Wir kommen zu Platons Höhlengleichnis und schlieβlich zu der Frage, ob es ein Leben nach dem Tod gibt. Wir kommen zu keinem Schluss, als unsere Züge eintreffen und jeder seiner Wege geht.

In den folgenden Tagen wird schön im Kreise der Familie gefeiert. Der bunt geschmückte Weihnachts­baum erleuchtet das Wohnzimmer und wir genieβen gemeinsam Stollen, Plätzchen und Kaffee bei kuscheliger Kachelofenwärme. Nach diesen drei Feiertagen fühle ich mich wie eine gemästete Weihnachtsgans und nehme mir vor, im nächsten Jahr besser auf meine Ernährung zu achten. Ich vernichte also die letzten Plätzchen, um meine Eltern vor dem übermäβigen Zuckerkonsum und den daraus resultierenden Folgeschäden zu schützen, während ich nach neuen Chat-Nachrichten auf meinem Handy schaue.

Es ist relative ruhig, ich habe wenige Nachrichten erhalten, denn viele meiner Freunde sind inzwischen bei ihren Groβeltern angelangt, die hunderte von Kilometern entfernt leben. Aber einer meiner Freunde hatte mir dennoch geschrieben. Er schreibt, dass Patrick von uns gegangen ist und ich weiβ nicht, was ich mit dieser Information anfangen soll. Warum geht Patricken denn weg? Warum so plötzlich und wohin denn überhaupt? Ist er mit seinem Partner, der bei einer Fluggesellschaft arbeitet, spontan verreist? Das wäre doch nicht das erste Mal, dass die beiden spontan verreisen. Und wenn sie verreist wären, warum bekomme ich diese Information ohne Smileys und ohne Info zum Reiseziel?

Ich versuche zu verstehen, was dieser Satz bedeuten soll, bis mir unser gemeinsames Gespräch vom Bahnhof wieder in den Sinn kommt. Natürlich will ich mehr wissen, kann es nicht fassen und erfahre dann, dass Patrick im Alter von 32 Jahren einen Herzinfarkt erlitten hat. Mir bleiben die Plätzchen mit einem Mal im Hals stecken. Patrick war doch gerade voll in der Planung für den Bau seines Hauses. Er hatte doch noch so viele Pläne für sein Leben, noch so viel vor sich. Und mit einem Mal geht nichts mehr. Alles zu Ende! Alles weg! Kein Leben mehr in Patrick. Kein Patrick mehr da. Alles auf einmal so surreal.

Ich versuche immer noch zu verstehen und verstehen einfach gar nichts. Mein Hals schürt sich zu und ich kann nur noch heulen! Tagein, tagaus. Will nur noch im Bett liegen und meine Ruhe haben. Frage mich irgendwann, wieviel ein Mensch weinen kann und habe tatsächlich nach ein paar Tagen keine Tränenflüssigkeit mehr, obwohl mir nach Heulen zumute ist. Ich versuche mich abzulenken, schreibe neuerdings Tagebuch, telefoniere mit Freunden und doch dreht sich alles nur um Patrick.

Inzwischen ist es Anfang Januar und meine Mutter hat Geburtstag. Ich ziehe mir schicke schwarze Kleidung an und warte auf eine Freundin, die mich abholt. Wir fahren zum Friedhof und treffen dort viele Menschen, die nicht annähernd in die kleine Kapelle passen. Wir lauschen über Lautsprecher dem traurigen Abschied unseres lieben Freundes in dieser eisigen Kälte! Hätte nie gedacht, dass ich jemals einen Geburtstag auf diese Weise verbringen werde! Der Alltag rückt näher, die Weihnachtsferien sind vorüber und ich mache mich auf den Weg zur Arbeit. Mein Leben muss schlieβlich weiter gehen. Dort angekommen fragen mich Kollegen, wie meine Ferien waren und ich möchte nur noch nach Hause, kann meine Tränen nicht mehr halten und mache mich schnell auf den Heimweg. In den nächsten Tagen kann ich von daheim aus arbeiten, mich ablenken. Das tut gut und in der darauffolgenden Woche wage ich den Schritt zum Arbeiten vor Ort. Es klappt und tut gut, von Arbeit und Kollegen abgelenkt zu werden. Aber natürlich geht es mir nicht so gut, dass ich Bäume ausreiβen könnte. Auch in den folgenden Wochen bin ich körperlich nicht sonderlich fit. Gehe hin und wieder spazieren, aber zum Sport kann ich mich seit dieser Nachricht einfach nicht mehr aufraffen. Wenn ich Sportbekleidung anlege, finde ich keine Energie, den Sport tatsächlich auszuführen. Es fühlt sich an wie ein Knoten in mir, den ich einfach nicht lösen kann.

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