Nach dieser mehrtägigen Stoβtherapie lasse ich mich von einem Bekannten abholen, der an diesem Tag ohnehin geschäftlich in der Stadt unterwegs ist. Er meldet sich kurz, als er nahe der Klinik hält und wartet im Auto auf mich. Ich bin froh, dass mein Koffer Rollen hat und ich ihn weitestgehend ziehen kann, bis eine kleine Stufe vor mir auftaucht. Das Ziehen war schon mühsamer als sonst. Nun versuche ich, den Koffer ein klein wenig hochzuheben und schaffe es kaum. Mir fehlt jegliche Kraft und ich brauche sehr lange, bis ich schlieβlich beim Auto ankomme. Hätte ich das vorher gewusst, hätten wir das definitive anders organisieren müssen. Aber leider hatte mich keiner in der Klinik über meinen rapiden körperlichen Zerfall aufgeklärt. Und daher konnte und wollte ich auch nicht verstehen, dass ich es plötzlich kaum alleine schaffe. Wir machen uns auf den Weg zu mir nach Hause und ich schlafe gleich nach dem Start der Autofahrt ein. Ich bin total kaputt, denn die paar Meter zum Auto und die Stufe haben sich für mich wie ein nicht enden wollender Marathon angefühlt.
Die Stoβtherapie besteht im Allgemeinen aus ultrahohen Dosen an Cortisol-Derivaten wie etwa Dexamethason- oder Methylprednisolon-Präparaten. Ultrahohe Dosen, weil man die Entzündungen in Hirn und Rückenmark so schnell wie möglich stoppen möchte.
Cortisol selbst ist ein körpereigenes Hormon, das den meisten wohl als Stresshormon bekannt sein dürfte. Es wird in den Nebennierenrinden hergestellt und spielt eine wichtige Rolle im Stoffwechsel. Aufgrund seiner entzündungshemmenden Wirkung wurde es früher in der Medizin als Mittel gegen Entzündungen aller Art eingesetzt. Inzwischen greift man lieber auf Cortisol-ähnliche Wirkstoffe zurück, auch da diese potenter wirken sollen als das natürliche Cortisol.
Was man leider selten erklärt bekommt, ist Folgendes: Ob Cortisol oder Cortisol-Derivat – es ist gerade in diesen ultrahohen Dosen sehr katabol. Das heisst, es baut massiv Muskeln und Knochensubstanz ab – und das in kürzester Zeit. Eine zugeführte ultrahohe Dosis ist um die Gröβenordnung von bis zu 10’000 x grösser, als die, die natürlicherweise in Ihrem Körper zirkuliert – und das nur an einem Tag Stoβtherapie. Seien Sie sich dessen bewusst, denn es gerät hierdurch eben einiges aus dem natürlichen hormonellen Gleichgewicht!
Leider wird selten erklärt, dass dieser “rapide Zerfall” (also dieser starke Muskelabbau) eine Nebenwirkung der Stosstherapie ist. Daher führen ihn die Patienten (vor allem die, die eben erst die Diagnose bekommen haben) meist auf die Krankheit selbst zurück. Dies beunruhigt den Patienten umso mehr und könnte durch geschultes Klinikpersonal durchaus vermieden werden!
Gröβenordnung 10‘000 aufgrund folgender Tatsachen:
- In einem Erwachsenen zirkulieren natürlicherweise etwa 100 ng/mL (also 100 μg/L) Cortisol [4] (tageszeitliche Schwankungen nicht berücksichtigt)
- Ein Erwachsener hat ca. 5 Liter Blut, also 500 μg (= 0.5 mg) Cortisol im gesamten Blut eines Menschen
- 1 g Urbason (Wirkstoff Methylprednisolon) pro Tag während der Stoβtherapie, dies entspricht 1000 mg Methylprednisolon. Also 1000 mg / 0.5 mg Cortisol => 2000 x mehr Cortisol-Derivat
- Methylprednisolon gilt als 5x potenter als Cortisol selbst [5], also 2000 * 5 = 10’000
(Für die Naturwissenschaftler unter uns könnten wir natürlich (um noch präziser zu sein) die Molaren Massen verrechnen (Cortisol: 362,47 g/mol, Methylprednisolon: 374,47 g/mol) [4],[6]. Aber da sich die molaren Massen nicht allzu viel unterscheiden, wird die Grössenordnung in etwa die bleiben, die oben berechnet wurde – also ca. 10’000.)
Eine kleine Notiz am Rande: Bitte wundern Sie sich nicht, wenn ich hier immer wieder von «Cortisol» und nicht von «Cortison» spreche (egal, ob nun mit «C» oder «K» geschrieben). Das ist vermutlich meiner jahrelangen Forschung am Cortisol-Metabolismus geschuldet.
Das häufig im medizinischen Kontext verwendete Wort «Cortison» bezeichnet eigentlich das hier erwähnte «Cortisol». Cortisol ist das physiologisch wirksame, also entzündungshemmende Molekül. Demgegenüber ist Cortison die deaktivierte Form von Cortisol und eben physiologisch unwirksam. Das aktive «Cortisol» hat als Synonym auch den korrekten Namen «Hydro-Cortison». Ich nehme an, dass die Vorsilbe «Hydro» im Laufe der Zeit der Einfachheit halber in unserem Sprachgebrauch weggelassen wurde – wodurch nun im Allgemeinen die «falsche», aber eben geläufige Bezeichnung für Cortisol (nämlich «Cortison») entstand.
Daheim steige ich aus und werde von meiner Mutter begrüβt. Ich schleppe mich die paar Meter vom Gartentor zur Haustüre, steige ein paar Treppenstufen und lege mich ins Bett. Ich kann wieder schlafen. Und das muss ich nun auch ganz viel!
Drei Stunden später werde ich wach und wage den Weg nach unten in die Küche. Ich bin so unendlich platt, esse kurz etwas und lege mich wieder ins Bett. Am nächsten Tag kann ich endlich den Blumenstrauβ von meiner Oma auf meinem Schreibtisch bewundern, der frisch geliefert wurde. Als ich mich daran mache, das Bett zu verlassen, muss ich feststellen, dass ich mich kaum bewegen kann. Ich habe von der nun wirklich geringen Bewegung am Vortag so unglaublichen Muskelkater, dass ich meine Füβe nicht normal abrollen lassen kann. Kann mich wirklich nicht daran erinnern, jemals einen so heftigen Muskelkater erlebt zu haben. Es ist fast unmöglich, sich zu bewegen. Und doch wollte ich mich unbedingt bewegen. Vielleicht auch, weil mir die Rollstuhlbilder nicht aus dem Kopf gehen wollten.